Simon Hammel

Geboren 25.12.1867 in Neufreistett (heute: Freistett) jüngstes Kind von sechs Geschwistern

Viehhändler (andere Quelle spricht von Metzger?)

02.06.1908 heiratet er Mina (geborene Bloch. Geboren 12.07.1883 in Efringen-Kirchen, überlebte das Lager Gurs und Rivesaltes, lebte illegal und „verdreckt“ in Frankreich, 06.07.1942 Umzug zu Tochter Gertrud in die USA, Tod am 22.03.1959 in New York)

16.03.1909 Geburt der ersten Tochter Gertrud Hammel (12.01.1938 Auswanderung nach Brooklyn (USA))

01.01.1919 Geburt der zweiten Tochter Liselotte Nanette Hammel (wurde mit Ihrer Tochter Janis nach Polen ins Lager Izbica deportiert und ermordet, datiert auf den Tag der Kapitulation am 08.05.1945 war dies sicherlich nicht das richtige Todesdatum)

30.03.1928 Umzug nach Offenburg (von Renchen?)

1933 kommen die Geschäfte langsam zum Erliegen

09.09.1939 Umzug nach München mit Liselotte, die schwanger ist

02.01.1940 zurück zu Mina nach Offenburg (eine Quelle sagt Rückzug nach Offenburg nach Geburt der Enkelin, andere Quelle: Geburt der Enkelin am 02.22.1940?)

22.10.1940 Deportation nach Gurs mit Mina

16.12.1940 Tod im Lager (72 Jahre ?)

 

 

Gurs, den 25. November 1940

An meine geliebte Enkelin, die ich leider nur kurz erleben durfte, an die Frau, die Sie hoffentlich einmal sein wird.

 

Liebe Judis,

Ich sitze hier mit 72 (?) Jahren. Es ist kalt und ich habe Hunger. Die Feuchtigkeit kriecht in mich hinein und vertreibt die letzten warmen Gedanken. Trotzdem habe ich das Bedürfnis, dir die Umstände deines Lebens näherzubringen. Ich hoffe, dass dich dieser Brief erreichen wird.
Wie konnte das alles geschehen? Wenn es nicht wahr wäre, würde ich es nicht glauben…

Ich wurde am 25.12.1867 in Neufreistett geboren. Ich war das jüngste von sechs Kindern und wuchs in ordentlichen Verhältnissen im Kreise der relativ großen jüdischen Gemeinde vor Ort (1831 Gründung der jüdischen Gemeinde, 1887 steigende Einwohnerzahlen, 400 davon 84 jüdisch) auf. Es war eine aufstrebende Gemeinde und meine Eltern erzogen uns im jüdischen Glauben, worüber ich sehr dankbar bin. Wie viele Juden habe ich mein ganzes späteres Leben als Viehhändler gearbeitet. Meine Tiere habe ich immer besser behandelt als sie uns Juden inzwischen behandeln.

Wie konnte das alles geschehen? Was haben wir Falsches oder Schlechtes gemacht?  

Neufreistett war ursprünglich wohlhabend, viele Kaufleute und Handwerker lebten hier, unter ersteren auch jüdische Freunde und Bekannte. Anfang des 20. Jahrhunderts wandelte sich dann das Blatt.

Von ehemals 84 jüdischen Einwohnern sank die Zahl 1925 auf 46. Auch wir zogen um, erst nach Renchen, später nach Offenburg. Den Viehhandel habe ich nie aufgegeben. Ich war ein angesehener Mann mit einem gut gehenden Geschäft. Erst 1933 wurde es schwierig und die Geschäfte kamen zum Erliegen. Das Ganze wurde ideologisch vorbereitet. Es gab eine Flut von antisemitischen Hetzartikeln, aber meine Kunden kannten mich ja und wussten, dass sie mit mir gute Geschäfte machten. Erst als der Judenboykott am 01. April 1933 ausgerufen wurde, kamen die Geschäfte zum Erliegen. Kein Wunder bei dem Terror, welcher vor allem die SA und die Hitlerjugend verbreiteten. Der Boykott wurde zwar nach drei Tagen abgebrochen, aber die Saat des Bösen war gesät.

Wie konnte das alles geschehen? Warum ließen sich die Leute verängstigen, verunsichern oder gar mitreißen?  

Ich heiratete spät mit 41 Jahren deine junge, schöne Großmutter Mina. Unsere erste Tochter, die Gertrud, deine Tante, kam am 16.03.1909 im Folgejahr zur Welt. Sie war ein gutes Kind und unser ganzer Stolz. Nachdem die Situation nach 1933 und vor allem nach der Reichspogromnacht 1938 immer schlimmer wurde, bereiteten wir ihre Ausreise nach Amerika vor. Zum Glück hatten wir noch die Mittel dazu. Mit 29 Jahren gelang ihr – Gott sei gedankt – die Auswanderung. Es ist sicher nicht einfach für sie. Aus Briefen wissen wir immerhin, dass sie angekommen ist und eine Arbeit in einer Fabrik gefunden hat. Sie lebt. Auch wenn die Sorge um sie mich täglich begleitet. Für Mina war es besonders schlimm.

Wie konnte das alles geschehen? Warum werden Familien auseinandergerissen und Angst und Schrecken verbreitet?

Unsere zweite Tochter Liselotte Nanette, deine geliebte Mutter, kam erst 10 Jahre nach ihrer ältere Schwester, am 01.01.1919, zur Welt. Ich war schon 52 Jahre alt. Sie war so süß und zerbrechlich. Ich schloss sie sofort ins Herz. Als sie 1939 unverheiratet in diesen Zeiten schwanger wurde, schwanger wurde mit dir, war ich zuerst handlungsunfähig. Alles war so kompliziert, alles war so verfahren. Wir beschlossen, dass sie in München, in der Anonymität und im Schutze der Großstadt, niederkommen sollte. Ich wollte sie unbedingt begleiten und beschützen und so zog ich 1939 bis zu deiner Geburt am 02.02.1940, mit ihr nach München. Das waren sehr innige Tage. Mein altes Herz durfte nochmals lieben. Deine Geburt ging mir sehr nah…. Dann musste ich zurück zu Mina. Die Zeiten wurden noch schlechter und ich war erst unendlich traurig, wurde missgelaunt und aggressiv. Die Tatsache, dass ich meinen Liebsten nicht beistehen konnte, wie es richtig gewesen wäre, arbeitete in mir.

Wie konnte das geschehen? Weshalb hat man uns das Wichtigste und das Liebste genommen?

Am 22.10.1940 war es dann so weit. Ich war 72 Jahre alt, deine Gr0ßmutter Mina 56. Es war der vorletzte Tag der Feiertage des Laubhüttenfests „Sukkot“. Am Morgen klopfte es harsch an der Türe. Zwei Männer standen davor und teilten uns in Beamtendeutsch mit, dass wir in kürzester Zeit packen und nur mitnehmen durften, was wir tragen konnten. Mina hatte schreckliche Angst und verfiel erst nach und nach in ein geschäftiges Handeln Wir flüsterten uns im Vorbeigehen immer wieder zu, an was wir denken sollten, was das Nötigste sei…. Bevor wir die Haustüre schlossen, nahm ich Mina noch einmal in den Arm. Sie zitterte und weinte. Kurze Zeit später mussten wir uns in der Turnhalle der Realschule einfinden und wurden danach in Lastwägen zum Bahnhof gebracht. Auf dem Zug waren viele SS- und Wehrmachtsoffiziere. Sorge und Angst wichen meiner aufgestauten Wut. Bevor wir einstiegen, mussten wir unterschreiben, dass wir bis auf 100 Mark, die wir mitnehmen durften, alles, was wir hatten, alles wofür ich ein Leben lang gearbeitet hatte, überschreiben („Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ als Tarnorganisation der Nazis) sollten. Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, war das Traurigste und Erniedrigendste, dass unsere Nachbarn und Bekannten, die Offenburger zuschauten. Unsere langjährigen Nachbarn standen vor dem Haus, manche spalierten an der Straße, andere versteckten sich hinter den Vorhängen. Nur Franz aus dem Nachbarhaus, mit dem ich manchmal ein Stück des Weges ging, drückte mir im Vorbeigehen die Hand, zeigte ein trauriges Lächeln. Ich zog den Hut weit ins Gesicht und versuchte mich unter meinem Mantel zu verstecken.

Wie konnte das alles geschehen? Warum durfte kein Stück Würde zurückbleiben?

So fuhren wir ab. Das Durcheinander der Gefühle war unbeschreiblich groß. Eine Art Erleichterung stellte sich erst ein als klar war, dass wir gen Westen fuhren. Zunächst waren die Familien noch zusammen. Aber sobald wir ins Lager kamen, hieß es: „Absteigen! – Nur die Männer!“ Mina schaute mich voller Panik an, ich stand im Schlamm, die Frauen fuhren weiter. Mit ihnen fuhr meine letzte Hoffnung. Wir wurden in eine dunkle Baracke geführt, auf dem Boden war nichts. Ich war in Gurs.

Wie konnte das alles geschehen? Wie weit kann man einen Menschen demütigen?

Das Leben hier richtet sich langsam zwischen Schlamm und Hunger ein, nur ich will nicht ins Leben zurückkehren. Mina habe ich in vier Wochen einmal gesehen. Sie ist im Frauenabschnitt.

Das Einzige, was mich wärmt sind meine Erinnerungen und das Kinderlachen, welches – man sollte es nicht glauben – manchmal zu hören ist, wenn ich an der Kinderbarracke vorbeikomme. Die Kinder werden hier Mickeys genannt. Ich habe ein Stühlchen gezimmert für die Kleinen. Ich stelle mir vor, du, geliebte Janis, sitzt darauf…in Sicherheit, warm und ohne Hunger. Du hast eine Zukunft…
In der Hoffnung und doch nicht mit der Gewissheit, dich wiederzusehen, wünsche ich dir das erdenklich Beste in diesen Zeiten.

Ich liebe dich und die Meinigen.

Dein mit dir verbundener Großvater