Mickey au Camp de Gurs

Horst Rosenthal: Der Gurs-Alltag in Comic-Form

Horst Rosenthal wurde am 28. Oktober 1940 nach Gurs eingeliefert. Er war im Juli 1933 aus Breslau nach Frankreich geflohen. In sieben Jahren hatte er bereits sieben Internierungslager passiert, bevor er in Gurs landete. Er wusste, was auf ihn zukam: Die Hölle auf Erden. Er hatte in den sieben Jahren Flucht sehr gut französisch gelernt, das zeigen die wenigen Dokumente, die es über ihn gibt (ein Foto zählt leider nicht dazu). Auch Horst Rosenthal, der seine Ausbildung als Grafiker hatte unterbrechen müssen, setzte das Lagerleben „ins Bild“. Er wählte dazu die Kunstform des Comic mit der zu dieser Zeit bereits international berühmten Comicfigur Mickey Mouse.

Abb. 1:  Horst Rosenthals Comic & Mickey  au Camp de Gurs, der dort heimlich „von Hand zu Hand ging“.

„Veröffentlicht ohne Genehmigung von Walt Disney“ – steht auf dem Titelbild seines 16 Blätter umfassenden Comics „Mickey au Camp de Gurs“. Die Texte zu den
Zeichnungen sind in französischer Sprache verfasst. Er erzählt darin die Geschichte der kleinen, frechen, wilden, freiheitsliebenden Maus, die unfreiwillig nach einer Polizeikontrolle im Lager Gurs landet. Der Grund der Verhaftung: Mickey kann keine Papiere vorweisen:

Abb. 2:  Mickey wird nach Gurs gebracht, weil er keine Papiere hat

„Aber plötzlich ….. hielt mich ein Gendarm an. * !!! Ö * ??? !!! – sagte er. Es war baskisch! Da ich diese Sprache nicht verstehe, sagte ich nichts. Da ich weiterhin schwieg, wurde der Gendarm wütend: – Hurensohn, deine Papiere!!! – Meine Papiere!?? Ich hatte noch nie Papiere. Ich, keine Papiere! Ich, international! – – Ah, Sie sind Ausländer? Auf, zur Wache! – Und so bin ich nach … GURS gekommen!!!
Mein erster Eindruck war ziemlich schlecht. Soweit das Auge reicht, standen Hunderte kleiner Hundehütten in einer Reihe, zwischen denen eine emsigeMenschenmenge mit mysteriösen Aufgaben beschäftigt war“.

 

Der Frage der Identität wird im Lager durch ein Verhör weiter nachgegangen:

„Ihr Name? – fragte der Kopf. – Mickey. – – Der Name Ihres Vaters? – – Walt Disney. – – Der Name Ihrer Mutter? – – Meine Mutter? Ich habe keine Mutter! – Wie bitte? Sie haben keine Mutter? Sie, Sie machen sich über mich lustig! – Nein, wirklich, ich habe keine Mutter!! – Ohne Witz! Ich kannte Typen, die keine Väter hatten, aber keine Mütter … Nun, machen wir weiter. – Sind Sie Jude? – Wie bitte? – Ich frage, ob Sie Jude sind!! – Zu meiner Schande war ich in dieser Angelegenheit völlig ahnungslos. Welche Nationalität? – – Ähm … Ich wurde in Amerika geboren, aber ich bin
international! – – International! INTERNATIONAL!! Sie sind also Kommu… Und mit einer schrecklichen Grimasse tauchte der Kopf wieder in seinen Stapel Papiere ab“.

Abb. 3:  Mickey beim Verhör in Gurs

Indem der Betrachter Mickeys Streifzügen durch das Lager folgt, erhält er tiefe
Einblicke in das Lagerleben. Das zeigt sich bei der Zensur aller ein- und
ausgehenden Briefe: „Mir ist es gelungen, den Mann zu entdecken, der die meisten
Briefe erhält. Es ist Monsieur Zensur. Er erhält sogar Briefe, die nicht für ihn sind.
Und er liest sie trotzdem. Was für eine Frechheit, oder? Und wenn er eine Passage
nicht mag, schneidet er sie raus, bevor er den Brief verkauft. Stellen sie sich das mal
vor!“

Abb. 4:  Essen muss man mit der Lupe suchen

Abb. 5:  Der Zensor im Lager.

Durch die unbekümmerte, leicht kindlich naive und unvoreingenommene Art der Wahrnehmung Mickeys wird die perfide Beamtenwillkür entlarvt, ihre Vertreter im Lager als die eigentlich Kriminellen bloßgestellt. Hunger und Krankheiten waren ständige Begleiter im Lager. Die Essensrationen reichten nicht zum Überleben.
Mickey muss das Brot mit der Lupe suchen:

„Plötzlich eilten alle in eine Ecke der Baracke. Es war die Stunde der Brotverteilung. Überhaupt war das Wiegen des
Brotes von einem feierlichen Ritual begleitet, dessen Geheimnis ich mir nicht erschließen konnte. Jedoch sah ich, dass das Volumen des Brotes während der
Zeremonie schnell abnahm und als ich schließlich meine Ration erhielt, war es schwierig, sie mit bloßem Auge zu erkennen“.

Insgesamt zeichnete Rosenthal in Gurs drei Comics: Mickey au Camp de Gurs; La Journée d´un Hébergé und Petit Guide à travers le Camp de Gurs. Die Comic-Hefte gingen im Lager von Hand zu Hand. Nicht umsonst hieß die Kindergruppe des Lagers „Les Mickeys de Gurs“. Rosenthals Comics waren Trost und Anklage
zugleich. Mit der liebenswerten, frechen, kleinen Maus konnten sie sich identifizieren. Sie war in allem das Gegenteil der menschenverachtenden Wachmannschaften. Rosenthal brandmarkte und entlarvte den Kern der schrecklichen Geschehnisse in Gurs vor der Folie einer freiheitsliebenden, lebensbejahenden Haltung, die sich die Würde nicht nehmen lässt. Das macht sie einmalig als konkretes Signal des kulturellen Widerstands in dieser Vorhölle von Auschwitz. Im letzten Blatt des Mickey- Comics beschäftigt sich Horst Rosenthal mit der Flucht aus Gurs:

„Also wirklich, die Luft der Pyrenäen bekam mir ganz und gar nicht mehr. Und da ich nur ein Cartoon bin, habe ich mich mit einem Radiergummi ausradiert … Und … hop … !! Die Gendarmen können mich jederzeit suchen kommen, im Land von F… [Freiheit], G… [Gleichheit] und B… [Brüderlichkeit].?(Ich spreche von Amerika!)“.

Abb. 6:  Rosenthals Hoffnung ist Amerika als Rettungsanker.

Horst Rosenthals Aufenthalt in Gurs endete Ende Juli 1942. Er wurde in das Lager Rivesaltes verlegt. Sein Name stand auf der Liste des Deportationszugs Nr. 31, der am 11. September 1942 Drancy mit dem Ziel Auschwitz verließ. Vermutlich wurde er dort kurz nach der Ankunft ermordet, weil er einen gelähmten linken Arm hatte, also „arbeitsunfähig“ war. Einen Monat vorher war er 27 Jahre alt geworden.